Ingrid Lindau:

Wie entstehen Vorurteile?

Persönlichkeitsentwicklung / 24.11.2016 / 0 Kommentare

Wie entstehen Vorurteile?


Stellen Sie sich vor, Sie haben morgen einen Termin mit Herrn Schmidt. Sie kennen ihn nicht, wissen jedoch, dass er Beamter ist. Mit dieser Information versuchen Sie sich automatisch ein Bild von ihm zu machen. Dabei greifen Sie möglicherweise auf Ihre Vorurteile zurück. Vielleicht denken Sie, dass Herr Schmidt immer korrekt, aber langweilig gekleidet ist, meistens hinter seinem Schreibtisch sitzt und großen Wert auf Ordnung legt. Diese Bilder können im Kopf sein, bevor Sie mit Herrn Schmidt zusammenkommen. Bei Ihrer Begegnung achten Sie dann insbesondere auf diese Eigenschaften. Wie entstehen diese Vorurteile, die uns davon abhalten, offen, neugierig und unbefangen auf Menschen zuzugehen?

Vorurteile sind negative und positive Meinungen über andere Menschen, die nicht auf Fakten beruhen. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich bezeichnete Vorteile als „stabil gewordene Wahrnehmungstäuschungen".

Wir müssen in unserer komplexen Welt ständig Situationen einschätzen sowie schwierige und belastende Entscheidungen treffen. Vorurteile helfen, uns im Wirrwarr der Welt zurechtzufinden, da wir mit ihnen schnell und einfach entscheiden können und eine erste Orientierung bei unvorhergesehenen Situationen erlangen. Die Beurteilung des Aussehens, der Stimme, des Alters, der Gefühle und der vermuteten Charaktereigenschaften von einem fremden Gegenüber findet in Bruchteilen von Sekunden statt. Diese Vorgehensweise macht die komplexe, schwierige Welt überschaubarer und dient als Filter, der Menschen automatisch in vermeintliche Schubladen einteilt.

Beispiele
- Wenn ein Radfahrer einmal von einem Auto angefahren wurde, dann könnte er daraus das Vorurteil ableiten, dass alle Autofahrer rücksichtslos durch die Straßen rasen. Das stimmt zwar nicht, dennoch hat die Angst einen Nutzen: Wenn sich zukünftig ein Pkw nähert, wird der Radfahrer genau aufpassen und damit die Unfallwahrscheinlichkeit senken. Dieses Vorurteil dient dem Selbstschutz.

- Kleine Kinder glauben, dass ihr Vater alles kann. Das stimmt nicht. Aber sie fühlen sich dadurch sicher und können ohne Angst ihre Umgebung erkunden. Erst später merken sie, dass ihre Eltern keineswegs allmächtig sind. Doch dann sind sie schon so weit entwickelt, dass sie sich in die Welt wagen. Das Vorurteil „Papa kann alles" hat seinen Zweck erfüllt.

Wie aus einem Vorurteil ein Urteil wird

Vorurteile gelten so lange, bis wir uns ein Urteil gemacht haben. Wenn ein Mensch anders ist als das Bild, das wir von ihm haben, dann verändert sich das Vorurteil. Je mehr Menschen wir aus dieser Gruppe kennenlernen, desto eher werden Vorurteile berichtigt, sodass schließlich ein Urteil entsteht. Dieser Prozess kann sehr lange dauern, denn obwohl eine Person ein anderes Verhalten zeigt als erwartet, halten wir zunächst an dem Vorurteil fest. Wir glauben, es handele sich um „eine Ausnahme von der Regel". Vorurteile gelten so lange, bis sie oft genug widerlegt sind.

Alle Menschen haben Vorurteile; sie sind in der Struktur des Denkens und Lernens verankert. Unter Umständen können sie jedoch zu Pauschalurteilen führen, Feindbilder festigen und den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Gefährlich und unehrlich ist daher die Behauptung der eigenen Vorurteilslosigkeit. Das Wichtigste ist, die eigenen entscheidenden Vorurteile zu erkennen und diese in einem offenen Erfahrungs- und Entwicklungsprozess zu prüfen und zu verändern. Den eigenen Vorurteilen entgegenwirken kann nur, wer sich ihrer bewusst ist. Die richtige Einstellung ist also nicht eine vorurteilsfreie, sondern eine vorurteilskritische.

 

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