Dr. Berit Lindau:

Abkürzung oder Irrweg? Wie Heuristiken unser Urteil und unsere Entscheidungen beeinflussen

Gesellschaft / 15.10.2019 / 0 Kommentare

Abkürzung oder Irrweg? Wie Heuristiken unser Urteil und unsere Entscheidungen beeinflussen

In unserem beruflichen wie privaten Alltag müssen wir beständig Urteile fällen, um Entscheidungen treffen und handlungsfähig bleiben zu können. Beispielsweise könnte sich bei der Besetzung einer Position im Unternehmen die Frage stellen, ob man einen erfahrenen und hochqualifizierten Mit-arbeiter einstellt, der jedoch auch entsprechend teuer ist, oder ob man stattdessen jemand Unerfahrenen mit einem niedrigeren Gehalt einstellt und diese Person dann weiterqualifiziert.

Um diese Entscheidung zu treffen, müsste man zunächst die Wahrscheinlichkeit heranziehen, mit der letzterer Kandidat die Arbeitsaufgaben eventuell nicht kompetent erledigen könnte, und diese mit den Kosten verrechnen, die aus Fehlern entstehen würden. Daraus ließe sich objektiv beurteilen, welcher Kandidat zu bevorzugen wäre.

Es ist jedoch offensichtlich, dass eine solche Art der Entscheidungsfindung äußerst aufwendig ist und mitunter an ihre Grenzen stößt: So lässt sich im Vorhinein die Wahrscheinlichkeit schlecht ab-schätzen, mit der der unerfahrene Kandidat in der Position scheitern würde. Es stehen also gegebenenfalls gar nicht alle Informationen zur Verfügung, die für ein objektives Urteil benötigt würden. Zudem sind unsere zeitlichen und kognitiven Ressourcen begrenzt: Wir können nicht jeder Entscheidung in unserem Leben so viel Raum geben, wir müssen Prioritäten setzen. Es wäre äußerst ineffizient, wenn wir jedes Mal eine umfangreiche Pro-und-Contra- Liste aufsetzen würden, um zu entscheiden, was wir zum Mittag essen. Um dennoch möglichst gute Urteile zu fällen, bedienen wir uns sogenannter Heuristiken – mentaler Abkürzungen, die uns ressourcensparend zu einer Einschätzung verhelfen.

In unserem Ausgangsbeispiel könnte sich ein Personaler versuchen zu erinnern, wie sich frühere Mitarbeiter in dieser Position bewährt haben, um das Risiko, einen unerfahrenen Kandidaten einzu-stellen, abschätzen zu können. Fallen ihm sofort einige Beispiele ein, bei denen es in der Vergangenheit zu Problemen kam, wird er sich wohl eher für einen erfahrenen, teureren Kandidaten entscheiden. Diese Heuristik nennt man Verfügbarkeitsheuristik: Je nachdem, wie viele Beispiele einer Situation oder Verhaltensweise wir spontan im Gedächtnis „verfügbar" haben, schätzen wir ihre Wahrscheinlichkeit höher oder niedriger ein.

In vielen Fällen ist diese Art der Entscheidungsfindung sehr erfolgreich: Unsere Erfahrungen können ein guter Wegweiser für unsere Urteile sein. Teilweise können uns Heuristiken aber auch in die Irre führen: Beispielsweise überschätzen die meisten Menschen die Chance, Opfer eines Terroranschlags zu werden, während sie die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, deutlich unterschätzen. Woran liegt das? In den Medien wird jeder Terroranschlag sofort berichtet; Zeitungsartikel und Sondersendungen konzentrieren sich tagelang auf das Geschehene. Gleichzeitig werden Krankheitstode – außer bei berühmten Personen – nicht öffentlich berichtet. Mit teils dramatischen Folgen: So überschreitet das Budget der US-Regierung zur Terrorbekämpfung die Investitionen in die Krebsforschung regelmäßig um ein Vielfaches. In 2007 wurden ca. 5,5 Milliarden Dollar in die Krebsforschung investiert, aber 150 Milliarden in die Terrorbekämpfung. Gleichzeitig gibt es in den USA jedoch pro Jahr nur ca. 300 Terroropfer gegenüber 550.000 Krebstoten. Während also durchschnittlich ca. 10.000 Dollar pro Opfer in die Krebsforschung investiert werden, sind es in der Terrorbekämpfung ganze 500 Millionen (!) pro Opfer. Durch die hohe mentale Verfügbarkeit von Terroranschlägen erscheint die Gefahr besonders groß und erhält Priorität – obwohl eine andere Verteilung der Gelder wahrscheinlich deutlich mehr Menschenleben retten könnte.

Eine weitere Heuristik, die wir häufig anwenden, ist die Repräsentativitätsheuristik. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind zur Jubiläumsfeier eines Krankenhauses eingeladen. Unter den an-wesenden, überwiegend festlich gekleideten Mitarbeitern und Gästen sehen Sie einen Mann, der eine Jeans sowie ein T-Shirt einer Heavy Metal Band trägt. Zudem unterhält er sich wenig mit den anderen Gästen, sondern bleibt zumeist für sich. Was würden Sie denken: Handelt es sich hierbei eher um einen Arzt des Krankenhauses oder um einen Mitarbeiter der IT-Abteilung? Die meisten Menschen würden wahrscheinlich auf Letzteres tippen, da der Mann dem Klischee eines Informatikers entspricht. Er erscheint also repräsentativ für ein Mitglied dieser Berufsgruppe, während wir uns einen Arzt typischerweise anders vorstellen. Hierbei wird jedoch außer Acht gelassen, dass bei einer Jubiläums-feier eines Krankenhauses sicher viel mehr Ärzte anwesend sind als IT-Mitarbeiter. Betrachtet man nur die Anzahl der im Krankenhaus angestellten Ärzte und IT-Mitarbeiter, ist es demnach deutlich wahr-scheinlicher, dass es sich bei dem Mann in Jeans und T-Shirt um einen Arzt handelt. Solche objektiven Kriterien vernachlässigen wir aber häufig zugunsten unserer subjektiven Vorstellungen und Stereotype.

Aber auch bei ganz sachlichen Urteilen, die sich nicht auf Personen in unserem Umfeld beziehen, wirken Heuristiken, zum Beispiel die sogenannte Ankerheuristik. Wenn Personen beispielsweise den Preis für ein Produkt schätzen sollen, so fällt diese Schätzung höher aus, wenn man zuvor fragt, ob der Preis wohl über oder unter 20 Euro liegt, als wenn man fragt, ob er über oder unter 5 Euro liegt. Selbst wenn vollkommen klar ist, dass 20 Euro für das Produkt deutlich zu viel sind (bzw. 5 Euro zu wenig), lassen sich Personen von dieser anfänglich genannten Zahl beeinflussen. Sie wirkt wie ein „Anker", von dem wir uns nur schwer lösen können. Es fallen uns dann andere Produkte dieser Preisklasse ein oder man achtet verstärkt auf die Vorteile des Produkts, sodass man im Endeffekt einen höheren Preis für angemessen hält.

Diese sogenannten Ankereffekte sind äußerst robust und treten im Zusammenhang mit vielen Urteilen und Entscheidungen auf, die mit Zahlen verknüpft sind. So konnten Studien bereits zeigen, dass selbst erfahrene Richter in einem Interview für dasselbe Verbrechen eine längere Haft für angemessen hielten, wenn zuvor vom Interviewer eine langjährige mögliche Haft genannt wurde, als wenn eine kurze mögliche Haft genannt wurde. Dies zeigt, dass selbst Erfahrung und Expertise uns nicht sicher vor den Einflüssen mentaler Abkürzungen schützt. Wollen wir ein objektives Urteil fällen – wie es bei einem Richter zweifellos der Fall ist – müssen wir uns diese möglichen Verzerrungen immer wieder vor Augen führen.

Das Wissen um diese Heuristiken können wir uns aber auch zunutze machen: Starten Sie die Gehaltsverhandlung mit einem Vorschlag, der etwas höher angesetzt ist – so setzen Sie eventuell einen „Anker" für Ihren Vorgesetzen. Gleiches gilt, wenn Sie etwas kaufen wollen: Warten Sie nicht unbedingt auf ein Angebot, sondern nennen Sie selbst einen niedrigen Preis. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie sich letztendlich dann auf einen niedrigeren Preis einigen werden.

Der Einfluss von Heuristiken lässt sich nicht abstellen, und das ist auch gar nicht erstrebenswert: Dazu funktionieren diese mentalen Abkürzungen viel zu gut und führen uns zu häufig effizient zu sinnvollen Urteilen und Entscheidungen. Solang wir uns der möglichen Irrwege bewusst sind, lassen sich Heuristiken sogar bewusst einsetzen, um Entscheidungen nach unseren Zielen zu beeinflussen.

Dr. Berit Lindau

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