Ingrid Lindau:

Analphabetismus: vertuscht und weggeschaut

Gesellschaft / 20.12.2016 / 0 Kommentare

Analphabetismus: vertuscht und weggeschaut

Die extreme Form des Analphabetismus, bei der die Betroffenen nicht einmal ihren Namen schreiben oder einzelne Worte lesen können ist in Deutschland glücklicherweise sehr selten geworden. Allerdings existieren mitten in unserer Gesellschaft versteckte Formen der Schriftvermeidung.

Eine Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung 2011 ergab, dass mehr als 14,5 Prozent der deutschen erwachsenen Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 64 Jahren nicht richtig lesen und schreiben können. Dabei geht es nicht um ein paar Rechtschreibfehler, sondern um funktionalen Analphabetismus, also eine für ein funktionierendes Alltagsleben unzureichende Schriftkompetenz. Die Betroffenen können möglicherweise einzelne kurze Sätze lesen und schreiben, jedoch keine zusammenhängenden – auch kurzen –Texte. Dies bedeutet, dass z. B. schriftliche Arbeitsanweisungen, Infobriefe, Warnhinweise, Fahrpläne etc. nicht aufgenommen werden können. Die Gutenachtgeschichte für die Kinder, die Speisekarte im Restaurant, der Brief vom Finanzamt oder der Beipackzettel eines Medikaments - Angelegenheiten des täglichen Lebens sind für mehr als sieben Millionen Deutsche ein großes Hindernis.

Erstaunlich ist, dass von diesen 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten mehr als die Hälfte berufstätig sind. Sie haben meist unbefristete Vollzeitstellen, wenngleich auch mit deutlich geringerem Einkommen als die erhobene Vergleichsgruppe. Dabei handelt es sich häufig um Betätigungsfelder mit überwiegend körperlicher Arbeit wie z. B. Bauhilfsarbeiter, Reinigungshilfskräfte etc. Allerdings ist der Anteil des funktionalen Analphabetismus unter arbeitslosen Personen höher als unter Erwerbstätigen.

Hinzu kommt die mit weiteren 25 Prozent der deutschen Bevölkerung erheblich größere Zahl derer, die zwar meist die Grundschule durchlaufen haben, die Rechtschreibung jedoch trotzdem nicht hinreichend beherrschen. Sie schreiben auch gebräuchliche Wörter nur fehlerhaft, können einfache Texte kaum verstehen und versuchen daher ebenfalls das Lesen und Schreiben zu vermeiden. Auch sie haben sich Berufe gesucht, in denen größtenteils körperlich gearbeitet wird und versuchen ihre mangelnde Schriftkompetenz zu verbergen. Doch Betätigungsfelder, die weitgehend ohne hinreichende Lese- und Schreibfähigkeiten auskommen, werden in unserer heutigen Gesellschaft immer seltener.

Für die Betroffenen ist es allerdings auch bei einfachsten beruflichen Aufgabenbereichen äußerst aufwändig und erfordert viel Energie und Kreativität, nicht aufzufallen und ihren Analphabetismus zu verbergen. In vielen Fällen helfen wohlmeinende, stillschweigende Kollegen bzw. Vorgesetzte, den Mangel zu vertuschen oder geben vor, nichts zu bemerken. Eine derartige „Unterstützung" hilft den Betroffenen lediglich sich weiter zu verstecken und verhindert möglicherweise, dass sie den Mut aufbringen sich Hilfe durch Beratung und individuelle Förderung zu holen. Dieser Schritt ist für erwachsene Menschen, die zudem auf schlechte Lernerfahrungen aus der Schule zurückblicken, äußerst schwierig: Von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten besuchen lediglich ca. 20.000 einen Leselern-Kurs. Zumal Analphabetismus in der Gesellschaft noch immer ein Tabuthema ist. Betroffene verbergen ihre Schwäche auch im privaten Bereich aus Scham und nehmen selbst Nachteile und Rückschritte in Kauf, um sich nicht „outen" zu müssen. So erscheint eine Beförderung in eine höhere Position, in der zwangsläufig mehr gelesen und geschrieben werden muss, für einen anonymen Analphabeten als Katastrophe.

Dabei hat Analphabetismus nicht unbedingt etwas mit mangelnder Intelligenz zu tun. Ursächlich ist meist ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Neben individuellen Besonderheiten spielt auch die Familiensituation und das Elternhaus eine wichtige Rolle. Die Studie des Bundesministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass die schriftvermeidenden Gewohnheiten der Eltern häufig an die Kinder weitergegeben werden. Die Eltern können ihre Kinder im schulischen Bereich nicht unterstützen und geben bewusst oder unbewusst die eigenen schlechten Lernerfahrungen weiter. Auch die Schule wird dem individuellen Förderungsbedarf dieser Kinder aufgrund von Personalmangel und Zeitdruck häufig nicht gerecht.

Hier besteht dringend gesellschaftlicher Handlungsbedarf, um die junge Generation zum Weiterlernen zu ermuntern.

Das Bundesbildungsministerium und die Länder planen deshalb in den bevorstehenden zehn Jahren spezielle Lernangebote für Erwachsene und andere Projekte zum Thema Analphabetismus mit 180 Millionen Euro fördern. Ziel der bis 2026 laufenden „Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung" ist es, die Lese- und Schreibkompetenzen von Erwachsenen zu verbessern. Alphabetisierungsprojekte sollen gefördert sowie Kurskonzepte und Selbstlernmöglichkeiten geschaffen werden. Zudem ist eine Informationskampagne geplant, die über Analphabetismus informiert und das Thema enttabuisieren soll. Mit dieser Kampagne wird beabsichtigt, Betroffene zu motivieren, den Schritt in die Weiterbildung zu wagen.

 

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